Der Einfluss des arbeitsbezogenen Kohärenzsinnes auf den Stress und die Stressbewältigung aus der Perspektive des Organisationsmanagements


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Forschung

Heutige Stressforschung ist auf die Suche nach effektiven Bewältigungsmechanismen, -strategien, -stilen und Widerstandsressourcen ausgerichtet, deren überragende Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen unbestritten ist. Die meiste Lebenszeit begleitet der Menschen der Beruf und stellt ein der bedeutsamsten äußeren Umfelder des Individuums dar, das sowohl ein Lebenserfüllungs- als auch ein Stresspotential mit sich bringt.

Was belastet die Gesellschaft auf dem Arbeitsplatz, was wirkt entlastend? Welche persönlichen, sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen tragen zu Widerstandsfähigkeit gegen die Stressoren und zu einer erfolgreichen Stressbewältigung (Coping) bei? Welche Arbeitsbedingungen fördern die Entwicklung eines starken Ressourcenpools? Ich schloss mich der Stressforschung im Arbeitskontext an und stellte in dieser Studie spezifische Fragen, die unter anderem die Nutzbarkeit der Untersuchungsergebnisse für die praktische Umsetzung in Betrieben erhöhen sollten.

Der Mensch und die Arbeit

Für einen Menschen ist Erwerbstätigkeit die wichtigste Quelle zur Sicherung des Lebensunterhalts, zugleich ist sie von hoher Bedeutung für eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aus der unternehmensseitigen Perspektive ist ein Mitarbeiter der Grundbaustein des Unternehmenserfolges. Jeder Betrieb strebt nach Effizienz, Kosteneinsparung oder Gewinn. Die Gewährleistung dieser Parameter nur durch technische Veränderungen ist in der heutigen Zeit undenkbar, insbesondere wenn es um die Effizienz geht.

Der Personaleinsatz ist aus mehrerlei Hinsicht von besonderer Relevanz für den Erfolg eines Unternehmens, vor allem im rasch wachsenden Dienstleistungssektor, der 2017 bereits 74,5% der Erwerbstätigen in Deutschland untergebracht hat (Bundeszentrale für politische Bildung, 2018). Aufgrund der hohen Interaktion zwischen den Mitarbeitern, Kunden und anderen Geschäftsbeteiligten wird die Arbeit zu einem Faktor der Qualitätsdifferenzierung und der Absicherung der Kundenbindung.

Mitarbeiter sind die Treiber der Qualität, Kundenloyalität und Attraktivität eines Unternehmens als Arbeitgeber.

Moderne Personalführung zielt auf die Förderung von Gesundheit, Zufriedenheit, Motivation und Entwicklung der Mitarbeiter und ist dafür auf die wissenschaftlichen Ergebnisse in Bezug auf die leistungs- und persönlichkeitsfördernden Arbeitsbedingungen angewiesen.

Heutige Tendenzen

Trotz allen wissenschaftlichen Fortschritten ist das Thema Stress nicht vom Tisch. Laut einer Untersuchung an 1.200 deutschsprachigen Personen über 18 gehört der Job zu dem größten Stressauslöser, dabei werden die Arbeitsmenge, der Termindruck, die Störungen, die mangelnde Anerkennung, die Informationsüberflutung und ungenaue Anweisungen als Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz am häufigsten genannt (Techniker Krankenkasse, 2016).

Das durch die Technologieentwicklung, Globalisierung und Individualisierung schnell ändernde äußere Umfeld des Menschen verschafft einerseits sehr anregende, anderseits auch stressreiche Bedingungen und erfordert von ihm neben der Vielfalt an Kompetenzen hohes Maß an Belastbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Selbstorganisation und Flexibilität.

Globalisierung erweitert für die Beschäftigten das inhaltliche und zeitliche Anforderungsprofil, schafft Normalisierung solcher Arbeitsbedingungen wie globale Mobilität, permanente Erreichbarkeit, grenzüberschreitende Kooperation und interkulturelle Kommunikation, die nicht mehr als besonders angesehen und kompensiert wird. Der stets steigende Wettbewerb unter den Bedingungen der internationalen Migration und des Dienstleistungsaustausches sowie der transnationalen Wertschöpfungsketten und Unternehmensorganisationen zeichnet sich durch eine beachtliche Stagnation der Entgelte und eine sehr hohe Zahl an tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden.

Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen einen Zusammenhang zwischen hohen Leistungsanforderungen und Überstunden, sowie gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Diese Tendenzen finden einen deutlichen Ausdruck in Zahlen. Die aktuelle Gesundheitsberichterstattung der Krankenkassen zeigt, dass Krankschreibungen aufgrund psychischer Diagnosen seit dem Jahr 2004 kontinuierlich ansteigen, die Anzahl der Fehltage hat sich bis heute fast verdoppelt (Techniker Krankenkasse, 2019).

Das Thema Stress wird immer brisanter, da die wirtschaftlichen Bedingungen und der technische Entwicklungsstand in der heutigen Zeit noch mehr Leistung, Qualität, Geschwindigkeit und ständige persönliche Entwicklung erfordern. Es wird aber nicht weniger, denn die Erwartungen der modernen Welt, der Gesellschaft, der Familie und unsere eigenen sind hoch.

Der Bedarf an gesundheitsfördernden und präventiven Strategien der Arbeitsgestaltung ist eindeutig und die wirtschaftlichen Tendenzen erlauben keinerlei Beruhigung in Erwartung, dass hohe Arbeitsanforderungen und belastende Ereignisse zu vermeiden sind.

Wenn die Arbeit schlecht gestaltet ist, kann sie körperliche und psychische Beeinträchtigungen und Erkrankungen verursachen. Neben dem persönlichen Leid für die Betroffenen, bedeuten schlecht gestaltete Arbeitsbedingungen auch wirtschaftliche Einbußen für ein Unternehmen.

Die smarte Gestaltung der Arbeit liegt sowohl im Interesse der Beschäftigten als auch der Arbeitgeber.

Stress, Stressbewältigung und das Kohärenzgefühl. Die Studie

Dass Stress positiv und bereichernd sein kann ist mittlerweile wissenschaftlich anerkannt. Aus salutogenetischer Perspektive sorgt Stress für ein gesundes Maß an Spannung, welche durch den optimalen Einsatz vorhandener Ressourcen und Bewältigungsmechanismen wieder zum Gleichgewicht umgewandelt wird. Stress fördert im besten Falle den Aufbau und die Stärkung des persönlichen Ressourcenpools, im schlimmsten jedoch die Entwicklung und das Fortschreiten verschiedener Krankheiten.

Entscheidend sind weniger die Stressoren, die willkürlich und unkontrolliert auftreten können, sondern die dem Menschen zur Verfügung stehenden Mittel, um dem unerwünschten Zustand zeitnah entgegenzuwirken und die Wohlfühlbalance wiederherzustellen.

Einen sehr wichtigen Beitrag dazu lieferte Aaron Antonovsky (1984) mit seinem psychologischen Konzept des Kohärenzgefühls — einer persönlichen Meta-Ressource, einer globalen mentalen Einstellung des Menschen, die auf die Wahrnehmung wirkt und die kognitiven Bewertungsprozesse und die Motivation beeinflusst.

Das Kohärenzgefühl hilft den Menschen den Stress zu bewältigen, nicht krank zu werden oder schnell wieder gesund zu werden.

Obwohl der Begriff global und relativ abstrakt erscheint, ist er eine fruchtbare Grundlage für das weitere Spezifizieren der persönlichen Ressourcen und der Erarbeitung konkreter Empfehlungen, um den Transferprozess in die Praxis zu ermöglichen.

Das arbeitsbezogene Kohärenzgefühl (Work-SoC), als kontextspezifische Erfassung des Kohärenzgefühls, bezieht sich auf das Kohärenzerleben im Beruf, betrachtet die Empfindung der Arbeitssituation in Bezug auf die drei Komponenten des Kohärenzgefühls — Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit, und zielt auf die Beurteilung der aktuellen Arbeitsbedingungen.

Ich nahm in meiner Studie an, dass das arbeitsbezogene Kohärenzgefühl mit dem Stressempfinden und Coping (Stressbewältigung) zusammenhängt und auf die beiden einwirkt.

Diese Studie untersuchte 105 berufstätige deutschsprachige Teilnehmer über 18. Die Befunde der durchgeführten Untersuchung belegten großenteils die gestellten Hypothesen, dass zwischen den psychologischen Konstrukten bedeutsame Korrelationen bestehen und lieferten einen Hinweis auf die angenommene Kausalität der Zusammenhänge.

Was entwaffnet den Stress auf dem Arbeitsplatz?

Was bedeuten diese Befunde für einen Arbeitgeber, der den Wert eines gesunden und zufriedenen Mitarbeiters für den Unternehmenserfolg und für die Gesellschaft erkennt? Was bedeuten diese Befunde für einen Arbeitnehmer, der sich stark, kompetent und motiviert fühlt und zurecht nach einem gesunden und förderlichen Arbeitsumfeld sucht?

  • Eine bewältigbare und übersichtliche Menge der Arbeit, klar definierte und strukturierte Arbeitsprozesse und -tools, saubere Zuständigkeitsbereiche, ähnliche und wiederholende Arbeitsabläufe und ein hoher Informationsgrad zur aktuellen Arbeitssituation und dem Umfeld bilden ein starkes Verstehbarkeitsgefühl, das mit einem niedrigen Stressempfinden einhergeht.
  • Für die Entwicklung eines günstigen Handhabbarkeitsgefühls ist eine gute hilfsbereite Teamzusammenarbeit, Zugänglichkeit und Verlässlichkeit der nötigen Arbeitsinstrumente, der passende Schwierigkeitsgrad der Aufgaben, sowie die Unterstützung der Flexibilität und Vielfalt von Problemlösungsansätzen von großer Bedeutung.

Die Voraussetzungen für die ersten zwei Komponenten des arbeitsbezogenen Kohärenzgefühls sind arbeitsorganisatorischer und -technischer Art und lassen sich deutlicher erfassen, als die Bedingungen für die Sinnhaftigkeitskomponente. Einen Sinn in das Tun, in die Anstrengungen und in die Routine jedes einzelnen einflechten zu können, bedarf es eines modernen psychologischen Arbeitskonzepts und intelligenter globaler und unternehmensspezifischer Implementierungswerkzeuge.

Die Bildung des arbeitsbezogenen Sinnhaftigkeitsgefühls erfordert mehr als nur eine adäquate Entlohnung und ein respekt- und vertrauensvolles Feedbacksystem, eher geht es um ein feines Netzwerk der Sinnhaftigkeit-Symbole und Verhaltensregeln, die die intrinsische Motivation, die Eigenständigkeit, das Verantwortungsbewusstsein und das sichere Auftreten der Arbeitnehmer aufbauen und stärken.

  • Das Gefühl der Sinnhaftigkeit ist in solchem Umfeld gegeben, in dem die Wertschätzung und Anerkennung des Mitarbeiters, seiner Leistung, Kompetenz und Ergebnisse am höchsten ist. Dabei ist es wichtig, diese intangible soziale bzw. gesellschaftliche Ressource, die ich in mindestens drei Grundhaltungen unterscheiden würde, greifbar zu machen. Das Vertrauen, das in einer flachen Hierarchie, dem Du-Konzept, in den vereinfachten und zeitsparenden administrativen Prozessen und der Vertrauensarbeitszeit seinen Ausdruck findet. Die Wertschätzung, die in einer Unternehmenskultur eingebettet ist, und partizipative und delegierende Führungsstile, direkte und schnelle Kommunikationswege, Initiative, thematische und erfolgsgebundene gemeinsame Aktivitäten und die Einbindung in das soziale Engagement umfasst. Die Anerkennung, die auf einem fairen und attraktiven Vergütungssystem, kleinen Add-ins wie Rabattprogramme für die private Unterhaltungsaktivitäten o.Ä., auf der fachlichen und persönlichen Förderung der Mitarbeiter und Beförderungsprogrammen aufgebaut ist.

Grundsätzlich sind diese Bedingungen nachvollziehbar und bekannt, setzen allerdings in ihrer systematischen Umsetzung viel Intelligenz und Nachhaltigkeit voraus. Die Implementierung dieses Wissens in das tägliche Arbeitsleben benötigt das geeignete Instrumentarium und Mechanismen, die die Integration der kohärenzrelevanten Arbeitsbedingungen unternehmensweit durchsetzen und aufrechterhalten.

Die Implementierungswerkzeuge im Unternehmen

  • Die Geschäftsführung soll in ihren Visionen, ihrer Strategie und ihrem Verhalten das Konzept der kohärenten Arbeitsbedingungen verinnerlichen, konsequent durchleben und als ein Lernmodel für die ganze Unternehmensstruktur dienen.
  • Fortdauernd geschulte fachlich kompetente Führungskräfte setzen auf Leadership, Mentoring, Betreuung und Motivation und können ihren authentischen Führungsstill individuell einsetzen und den Fokus auf das Ergebnis dabei beibehalten.
  • Hier soll die besondere Rolle des Personalmanagements hervorgehoben werden. Eine professionelle Personalauswahl ist äußerst wichtig. Das Instrument erlaubt von Anfang an die nötigen und richtigen Kompetenzen zu erkennen und sie optimal einzusetzen. Die Identifikation des Entwicklungspotentials und der Fähigkeiten jedes Mitarbeiters ermöglicht berufsbegleitende und zielgerichtete Ausbildung vom „hausgemachten“ Fachpersonal und Führungskräften, stärkt somit den unternehmerischen Geist und das Kohärenzerleben.
  • Eine bewusste Teambildungskultur sollte nicht fehlen und den Wert auf die Heterogenität, Solidarität und Akzeptanz legen, um die Förderung der sozialen Kompetenzen zu unterstützen.

Die Breite und die unterschiedliche Art der Arbeitsbedingungen, die das Kohärenzgefühl stärken können, betreffen alle Unternehmensbereiche und benötigen eine systematische und unternehmensübergreifende Herangehensweise, die bereits in der strategischen Planung berücksichtigt werden soll. Gleichwohl muss festgestellt werden, dass diese intelligenten Arbeitsbedingungen mit beachtlichen Investitionen verbunden sind und keinen sofortigen Effekt haben, sondern im Verlauf deren Inanspruchnahme ansetzen und einen kontinuierlichen Prozess darstellen sollen.

Die Wirksamkeit und die Wirtschaftlichkeit des Programms der Förderung des Kohärenzgefühls setzt hohe Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen voraus.

Meine Empfehlungen

Ungeachtet ob wir uns persönlich entwickeln wollen, gesund leben wollen und was für IQ wir haben, brauchen wir einen nährreichen Boden, um unser Potenzial zu erschließen. Ein unterstützendes und förderndes Umfeld ist dafür eine der Voraussetzungen. Sucht gezielt nach einem Arbeitgeber, der die oben genannten gesundheitsrelevanten Arbeitsbedingungen nach eurer Vorstellung anstrebt, selbst wenn es einige Fehlversuche kostet. Helft eurem Arbeitsumfeld bei der Gestaltung und Aufrechterhaltung dieser Bedingungen mit. Die Wirtschaft hat es bereits erkannt und die Anzahl an entsprechenden Unternehmen wird wachsen.

Die in dieser Studie verwendete Work-SoC-Skala (Bauer, Vogt, Inauen & Jenny, 2015) ist sehr übersichtlich und eignet sich sehr gut für die diagnostischen Zwecke für das Personalmanagement. Sie kann eingesetzt werden, um die Wahrnehmung der aktuellen Arbeitsbedingungen und ihrer Entwicklung zu erfassen, somit ein messbares Feedback von Mitarbeitern an die Führungskräfte zu realisieren und die verbesserungswürdigen Bereiche aufzuzeigen.

Literaturverzeichnis:

Antonovsky, A. (1984). The sense of coherence as a determinant of health. In J.D. Matarazzo & N. E. Miller (Eds.) Behavioral health: A handbook of health enhancement and disease prevention, 114-129. New York: Wiley.

Bauer, G. F., Vogt, K., Inauen A. & Jenny G. J. (2015). Work-SoC – Entwicklung und Validierung einer Skala zur Erfassung des arbeitsbezogenen Kohärenzgefühls. Zeitschrift für Gesundheitspsychologie 23 (1), 20-30. Göttingen: Hogrefe Verlag. DOI: 10.1026/0943—8149/a000132.

Bundeszentrale für politische Bildung (2018). Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen und Berufsgruppen. Datenreport 2018. Verfügbar unter: http://www.bpb.de/nachschlagen/datenreport-2018/arbeitsmarkt-und-verdienste/278089/erwerbstaetige-nach-wirtschaftsbereichen-und-berufsgruppen

Techniker Krankenkasse (2016). Entspann dich Deutschland. TK-Stressstudie. Hamburg: Techniker Krankenkasse. Verfügbar unter: https://www.tk.de/resource/blob/2026630/9154e4c71766c410dc859916aa798217/tk-stressstudie-2016-data.pdf

Techniker Krankenkasse (2019). TK-Gesundheitsreport 2019: Fehlzeiten erreichen Rekordniveau. Verfügbar unter: https://www.tk.de/presse/themen/praevention/tk-gesundheitsreport-2019-fehlzeiten-erreichen-rekordniveau-2062368